Ach­tung, Ach­tung: Das ist ei­ne Übung!

Wie sich die Bundesnetzagentur auf die Gaskrise vorbereitet

Vier Männer und zwei Frauen planen etwas in einem Büro.

Kann man eine Krise üben? Wohl nicht, denn was eine Krise auszeichnet, ist, dass sie sich vom Normalzustand unterscheidet. Es ist kein Verlass auf das, was sonst immer funktioniert. Aber man kann sich darauf vorbereiten. Und genau das hat die Bundesnetzagentur im September getan.

Donnerstagmorgen, acht Uhr. Die erste Schicht der Krisenübung Gas findet sich vor dem Krisenzentrum ein. Erste Station: Maskenausgabe, Covid-Test. Nur wer negativ ist, darf rein. Der Raum füllt sich rasch mit etwa 25 Menschen. Schilder weisen auf ihre Aufgaben: Krisenstabsleitung, Sichtung, Lage. Für jedes Team sind Beobachterinnen und Beobachter vorgesehen, die dokumentieren, was gut läuft und wo die Prozesse noch nicht funktionieren. Teil der Übung sind außerdem weitere Behörden aus Bund und Ländern, Gasnetzbetreiber und Industrieunternehmen aus verschiedenen Branchen. Insgesamt gibt es rund 200 Beteiligte an diesem Rollenspiel.

Schaubilder mit farbigen Pfeilen in alle Richtungen hängen an den Wänden. An der Seite ein Tisch mit diversen Süßigkeiten und Wasser. In der Mitte des Raums, an der größten Tischgruppe, befindet sich das Herz des Krisenzentrums: „Abwägung und Entscheidung“ sagt das Schild. Leises Gemurmel erfüllt die Luft. Gespannte Erwartung ist greifbar. Kein Scherzen, keine Sprüche. Alle konzentrieren sich auf das, was heute vor ihnen liegt.

Krise mit Drehbuch

Es ist noch nicht ganz Herbst, aber es fällt schon leicht, sich kalte Tage vorzustellen. Niedrige Temperaturen bedeuten mehr zu heizen. Und bei diesem Stichwort läuten bei allen, die im vergangenen Winter mit der drohenden Gasmangellage zu tun hatten, die Alarmglocken. Unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war klar, dass es mit den Gaslieferungen aus Russland wohl bald zu Ende gehen würde.

Um einen Notfall für Industrie und Bevölkerung zu verhindern, trat bald das Krisenteam zusammen. Es bestand – und besteht bis heute – aus Fachleuten aus der Bundesnetzagentur, dem Bundeswirtschaftsministerium und Industrieverbänden. Seine zentralen Aufgaben waren, das fehlende Gas aus anderen Quellen zu beschaffen und der Politik Maßnahmen vorzuschlagen, wie der Gasverbrauch in Deutschland zu reduzieren sei.

Daneben hat es sich mit dem Szenario einer Gasmangellage beschäftigt. Die größten Gasverbraucher des Landes wurden aufgefordert, ihre Daten in einer IT-Sicherheitsplattform einzutragen. Sie dient dazu, einen Überblick über den Verbrauch und die Einsparungen der Unternehmen zu gewinnen – und im Notfall eine Grundlage für Reduktion oder sogar Abschaltung zu haben. Laut Gesetz wird die Bundesnetzagentur nämlich zum Bundeslastverteiler, sobald die Bundesregierung die Notfallstufe ausruft. Das bedeutet, sie entscheidet über die Zuteilung von Gas, wenn es nicht mehr für alle reicht. Die so genannten Haushaltskunden bekommen weiterhin, was sie zum Leben brauchen. Sie sind vom Gesetz geschützt. Gleiches betrifft Einrichtungen wie Krankenhäuser, Polizei, Bundeswehr oder Unternehmen, die lebenswichtige Produkte herstellen.

Außerhalb des Krisenzentrums sitzt die Übungsleitung. Mitarbeitende aus den Energiereferaten haben sich ein Drehbuch überlegt, das niemand sonst kennt. Sie werden dafür sorgen, dass „etwas“ geschieht. Doch was?, fragen sich die Übenden im Krisenraum. Und wie gehen wir damit um? Jonas Lammers vom Team „Abwägung/ Entscheidung“ antwortet, ohne dabei den Blick ganz von seinem Bildschirm zu wenden: „Das ist schon anspruchsvoll. Wir spüren den Druck. Wir haben schon vor anderthalb Jahren alle möglichen Maßnahmen vorbereitet und unterziehen sie heute einem Praxistest.“ Seit einem halben Jahr steht die Krise nicht mehr im Fokus. Auch in der Bundesnetzagentur haben sich alle entspannt. Aber jetzt, hier im Krisenzentrum, ist sie plötzlich da – wenn auch nur als Übung.

9:09 Uhr: Die Fernleitungsnetzbetreiber, kurz FNB, melden eine Fehlmenge für die kommenden vier Tage. „Jetzt wird es ernst“, stellt Chris Mögelin fest. Er ist der Leiter des Krisenstabs. Mit dieser Meldung würde tatsächlich der Ernstfall eintreten.

Die Regierung ruft die Notfallstufe aus. Rasch wird eine Videokonferenz mit den großen Gas-Unternehmen angesetzt. Und wirklich: auf den Monitoren erscheinen „echte“ Vertreter von ThyssenGas, Gascade und andere. Es fehlen 60 Gigawattstunden (GWh) im bundesweiten Netz, also etwa fünf Prozent des täglichen Bedarfs. Das soll nun auf der Sicherheitsplattform eingetragen werden. Dort eröffnet das Team „Abwägung und Entscheidung“ nun eine Initiative. Das heißt nichts anderes als: es beginnt die Suche nach einer Möglichkeit, die fehlende Gasmenge zu decken. Es schlägt die Stunde der Verfügungen.

Der Instrumentenkasten für den Notfall

In der Notfallstufe ist es nicht mehr möglich, das fehlende Gas durch Markteinkäufe zu decken. Das erste Instrument, das dem Krisenstab zur Verfügung steht, ist die so genannte Ausspeicherverfügung. Der Bundeslastverteiler fordert die Betreiber und Nutzer der Gasspeicher dazu auf, Gas ins Netz einzuspeisen. Die Speicher sind planmäßig gut gefüllt. Eine Verschnaufpause bedeutet das jedoch nicht. Das gespeicherte Gas kann nur den akuten Engpass abfedern. Deshalb geht gleichzeitig eine weitere Verfügung raus, diesmal an die großen Gasverbraucher. Sie sollen 20 Prozent ihres Verbrauchs einsparen.

Die Berechnung dafür ist kompliziert. Der Vergleichszeitraum ist dabei die Woche vor Erlass der Verfügung. Es hängt aber auch davon ab, wieviel Gas die Firmen im vergangenen Jahr schon eingespart haben. Diese Daten haben die Netzbetreiber automatisch auf der Sicherheitsplattform für jedes einzelne Unternehmen hinterlegt. Darüber hinaus haben die Unternehmen rechtzeitig vor der Krise auf der Sicherheitsplattform Daten zu ihrer Produktion eingetragen. Die müssen sie jetzt kurzfristig aktualisieren. Dazu gehören auch Informationen darüber, welche Menge Gas sie brauchen, damit es nicht zu irreparablen Schäden an ihren Anlagen kommt. Oder ab wann sie ökologische oder soziale Folgen befürchten, die einen verringerten Gasbezug unzumutbar machen.

Manch einer stellt es sich vielleicht so vor, dass irgendeine Mitarbeiterin der Bundesnetzagentur vor einer riesigen Wand mit Knöpfen und Hebeln steht, die sie beliebig hoch- und runterstellen kann. So ist es natürlich nicht. Eine Verfügung zu erlassen bedeutet, in die Wirtschaft einzugreifen, in Produktionsabläufe, in Lieferketten. Das geht nur nach einer sehr präzisen Abwägung. Eine, die auch hinterher nachvollziehbar ist, juristisch standhält.

Alle im Krisenzentrum wissen das. Entsprechend angespannt ist die Atmosphäre. Es erfordert nicht viel Phantasie, sich hier den echten Notfall vorzustellen.

Wie reagiert die Bevölkerung?

In der Übung haben die Medien und damit die Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt längst Wind von der brenzligen Situation bekommen. Im Posteingang der Pressestelle laufen im Minutentakt besorgte Fragen ein. Journalistinnen wollen etwas erklärt bekommen, Bürger sind verunsichert. Karla Kolumna erkundigt sich, ob bestimmte Regionen in Deutschland vor anderen von der Gasversorgung abgeschnitten sein werden. Ein gewisser Ralf Reporter will wissen, wie Haushaltskunden erfahren, dass ihnen das Gas abgedreht wird. Die Pressestelle hat diese Situation geübt. Sie schickt vorbereitete Mails raus, in denen sie die Lage schildert, geschützte Kunden beruhigt und zum Gassparen anhält. Das Team „Presse“ steht in dauerndem Kontakt mit ihrem Pendant vom Bundeswirtschaftsministerium. Auch hier geht es darum, Prozesse einzuüben.

Eine Pressemitteilung ist in Vorbereitung. Sie soll so schnell wie möglich raus, auch auf Englisch, für die internationalen Medien. Die zentrale Botschaft: Ja, es gibt eine Gasmangellage, aber wir haben wirksame Maßnahmen erlassen. Private Haushalte sind nicht betroffen.

Für den frühen Nachmittag setzt die Pressestelle eine Pressekonferenz mit dem Präsidenten Klaus Müller und einem Staatssekretär des Ministeriums an. Das Land lechzt nach Informationen. In solchen Situationen blühen Gerüchte und Falschinformationen, die sozialen Netzwerke überschlagen sich. Es gilt, dem rechtzeitig klare Fakten entgegenzustellen.

Die Ziffern der großen digitalen Uhr leuchten rot. Stunden sind vergangen. Die Mitglieder des Krisenstabs sitzen nicht mehr unbewegt auf ihren Plätzen, sondern stehen in kleinen Gruppen zusammen. Sie besprechen sich mit gesenkten Stimmen. Jacken hängen über Stuhllehnen, Hemdsärmel sind hochgekrempelt, Frisuren leicht verstrubbelt. Der Bestand der Schokoriegel hat sich deutlich reduziert, halb geleerte Butterbrotdosen liegen neben den Tastaturen. Eine Pause gab es bisher nicht.

Immer wieder bittet der Schichtleiter um Aufmerksamkeit. Dies ist der Stand und das sind unsere Optionen. Wir prüfen dieses und besprechen uns mit jenen. Eine weitere Verfügung steht zur Debatte. Eine, die sich gezielt an die ganz großen Unternehmen richtet. Jonas Lammers sagt: „Es ist die Frage, ob es sinnvoller ist, wenige ganz abzuschalten oder viele teilweise. Wir müssen die Folgen im Blick haben. In manchen Industrien ist es zum Beispiel nur schwer möglich, die Maschinen wieder hochzufahren, wenn sie einmal ausgestellt wurden.“

Simulierte Szenarien: der äußerste Fall

Am Nachmittag – mittlerweile hat ein Schichtwechsel stattgefunden – simuliert die Regie im Hintergrund einen Fall, den viele Beteiligte für eher unwahrscheinlich halten. Zwei Unternehmen aus verschiedenen Ländern leisten Widerstand und weigern sich, die Verfügung umzusetzen. Sie wollen ihren Gasverbrauch nicht reduzieren.

An ihrem Fall können die Krisenstabsmitglieder üben, wie eine Vollstreckungshilfe funktioniert. Die Innenministerien der jeweiligen Länder erhalten einen Anruf aus dem Krisenzentrum. Die instruieren ihre Polizei, gemeinsam mit einem Techniker des Netzbetreibers zu den Produktionsstätten auszurücken und buchstäblich den Gashahn zuzudrehen. Es geht darum, den lebenswichtigen Bedarf in Deutschland zu sichern. Eine Unterbrechung der Wärmeversorgung hätte unabsehbare Folgen. Viele Betriebe hätten gute Gründe, sich gegen eine Abschaltung zu wehren. Doch die Gründe auf der anderen Seite wiegen schwerer. Schließlich werden sie gezwungen, der Verfügung Folge zu leisten.

Ein weiteres Szenario kündigt sich an. Vor dem Zaun, der das Gelände der Bundesnetzagentur umgibt, versammeln sich Demonstrierende. Sie sind wütend und laut. Einige halten Schilder hoch, die nicht nur Sachliches fordern. Der Sicherheitsdienst versucht, die Lage zu beruhigen. Zuständig sind jedoch die Ordnungsbehörden der Stadt Bonn. Die Menschen dürfen natürlich ihren Unmut kundtun. Kommt jedoch Gewalt ins Spiel, löst die Polizei die Versammlung auf.

Die Krisenübung nähert sich ihrem Ende. Das fehlende Gas konnte für die nächsten vier Tage beschafft werden. In der echten Krise würde nun die nächste Schicht übernehmen, auch nachts, auch am Wochenende. Bis es vorbei ist. Chris Mögelin, der Krisenstabsleiter, sagt: „Wir können so viele Szenarien wie möglich durchdenken. Alle Eventualitäten im Blick behalten. Abläufe einüben, Prozesse verbessern. Und trotzdem müssen wir uns gewahr sein, dass Unvorhergesehenes passieren kann und wird. Dann werden wir improvisieren, statt Pläne umzusetzen.“

Bei der Auswertung ein paar Tage später ist sich die Runde einig: Das Beste wäre, wenn es gar nicht erst zum Ernstfall kommt. Wenn der Krisenstab aber doch eines Tages einberufen wird, wird die Situation nicht fremd sein. Mit einer Krise kann man sich nicht vertraut machen. Aber man kann Vertrauen schaffen in sich selber, in die Kolleginnen und Kollegen, in die Abläufe. Und das hat schon mal gut funktioniert.

Aktuelle Lage
Wir veröffentlichen täglich neue Daten zur Gasversorgung in Deutschland. Wöchentlich beurteilen wir die Lage in einem Situationsbericht.
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