Die Gas­la­ge in Deutsch­land und Eu­ro­pa

Wie passen Klimaschutz und Energiewende zusammen mit einer sicheren Gas- und Energieversorgung?

Klaus Müller

Herr Müller, Ihre ersten 100 Tage im Amt als Präsident der Netzagentur sind noch nicht vorbei, von einem ruhigen Ankommen kann keine Rede sein. Drängende Themen, insbesondere das der Energieversorgung, lagen von Beginn an auf Ihrem Tisch – wie fällt Ihre erste Zwischenbilanz aus?
Müller: "Ich bin in unruhigen Zeiten zur Bundesnetzagentur gekommen, das stimmt. Das heißt, dass gerade viele Dinge möglichst schnell passieren müssen. Und auch wenn ich es sehr schätze, wie schnell die Kolleginnen und Kollegen aktuell reagieren, entsetzt mich vor allem das Leid der Menschen in der Ukraine, das der russische Angriffskrieg hervorruft, jeden Tag erneut."

Dinge, die schnell passieren müssen – Sie sprechen die Vorbereitungen auf eine mögliche Gasmangellage an?
Müller: "Genau. Mit der vom BMWK ausgerufenen Frühwarnstufe Gas beobachten und analysieren wir den Markt, die Speicher und Gasflüsse ganz genau. Und wir bereiten uns auf eine Verschlechterung der Situation vor. Ich wünsche mir keine Gasmangellage, aber ich möchte, dass wir bestmöglich vorbereitet sind."

Wenn Sie von „wir“ sprechen, wer ist damit genau gemeint?
Müller: "Das ist zunächst ein Krisenteam mit Vertretern des Wirtschaftsministeriums, der Bundesnetzagentur, der Länder und der Energiewirtschaft. Und bei der Bundesnetzagentur stehen außerdem 65 Fachleute bereit, die Entscheidungen in einer Gasmangellage treffen würden. Im Moment planen wir die nächsten Schritte und mögliche Szenarien. Und wir intensivieren die Kommunikation und Information der Öffentlichkeit, etwa mit einem Lagebericht zur Gasversorgung, Hintergrundinformationen und FAQ."

Wo finden die Menschen diese Informationen?
Müller: "Im Internet unter www.bundesnetzagentur.de/aktuelle-gasversorgung, über den Twitteraccount @bnetza (https://twitter.com/bnetza) und über Pressemitteilungen, die ebenfalls online zu finden sind: www.bundesnetzagentur.de/Pressemitteilungen."

Und wie ist die Lage?
Müller: "Aktuell ist sie stabil. Aber der russische Lieferstopp für Polen und Bulgarien lässt ahnen, wie schnell sich das ändern kann. Deswegen bereiten wir alle Szenarien vor."

Neben den Vorbereitungen der Szenarien – was muss jetzt auf jeden Fall passieren?
Müller: "Wir müssen Gas zukaufen, Gas einsparen und Gas einspeichern."

Wie kann das funktionieren?
Müller: "Politik und Branchenvetreter müssen beraten, verhandeln und die gangbaren Wege beschreiten, um mehr Gas zu bekommen. Wir ermöglichen beispielsweise regulatorisch alles, was Planung, Genehmigung und Bau von LNG-Terminals beschleunigt und vereinfacht, so wie es Wirtschaftsminister Robert Habeck richtigerweise mit allen Mitteln vorantreibt. Für alle Verbraucherinnen und Verbraucher – sowohl Privathaushalte als auch Unternehmen – gilt gleichzeitig: Der Gasverbrauch sollte so kräftig wie möglich reduziert werden. Alle Potenziale, die man auf freiwilliger Basis ausschöpfen kann, sollten genutzt werden. In jeder Branche gibt es Möglichkeiten der Effizienz, Produktionsketten können überprüft werden. Jeder Mensch sollte in seinem Alltag schauen, wo er Gas einsparen kann."

Wie voll sind denn die Gasspeicher?
Müller: "Die Füllstände der Gasspeicher sind Stand heute vergleichbar mit den Jahren 2017 und mittlerweile deutlich höher als im Frühjahr 2015, 2018 und 2021. Und sie gehen im Moment weiter nach oben. Das muss so weitergehen, denn bis zum nächsten Winter müssen sie voll sein."

Warum dauert das so lange?
Müller: "Wir haben es hier mit einem komplexen Prozess zu tun. Die Gasspeicher lassen sich nicht über Nacht füllen. Aber im neuen Gasspeichergesetz haben wir klare Vorgaben und Mechanismen, damit wir für den nächsten Winter so gut wie möglich gewappnet sind."

Gaslieferungen, Gasterminals, Gasversorgung – wo bleibt da das große Ziel der Energiewende – erleben wir gerade einen Rückschritt?
Müller: "Es ist kein Rückschritt, aber wir müssen einen Umweg nehmen und werden ihn möglicherweise mit Kohlekraftwerken für die Stromerzeugung gehen müssen. Die Umstände erfordern das. Leider. Gleichzeitig scheinen mir die dramatischen Umstände zumindest noch deutlicher zu machen, wie wichtig eine stärkere Unabhängigkeit im Energiesektor für Deutschland ist. Und die ist nicht zu machen ohne einen beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien und den dazugehörigen Netzausbau. Das gibt den Kurs vor, den wir unterstützen. Die Bundesregierung und Wirtschaftsminister Robert Habeck werden das Ziel der Klimaneutralität nicht aufgeben, und das ist gut so. Und wenn wir heute über Flüssiggas-Terminals sprechen, dann denken wir bei der nötigen Infrastruktur die Zukunft einer grünen Wasserstofftechnologie gleich mit."

Noch einmal zurück zur Gasversorgung – Sie wurden in den Medien schon "Herr von Gazprom Deutschland" genannt – was hat es mit der Treuhänderschaft für Gazprom Germania auf sich?
Müller: "Die Übertragung der Treuhänderschaft für Gazprom Germania auf die Bundesnetzagentur ist ein Baustein, um die Gasversorgung für Deutschland und Europa zu sichern. Das Wichtigste ist, das Unternehmen weiter zu stabilisieren und damit einer Gefährdung der deutschen Gasversorgung vorzubeugen. Unsere Rolle als Treuhänderin bringt eine Verantwortung mit sich, die wir sehr ernst nehmen."

Es gibt rund um das Thema Gasversorgung sehr sachliche, fachlich fundierte Diskussionen, aber auch unsachliche Äußerungen und Beleidigungen, insbesondere in den sozialen Medien. Eine ganz persönliche Frage: Wie fühlt es sich eigentlich an, als ehemals oberster Verbraucherschützer vorgeworfen zu bekommen, man wolle den Menschen das warme Duschen verbieten?
Müller: "Gerade der Verbraucherschützer in mir hat die Sorgen und Nöte der Menschen sehr klar vor Augen. Und nimmt sie ernst. Ich möchte niemandem etwas verbieten oder wegnehmen müssen. Bei allen diskutierten Szenarien, die Privatpersonen einschränken würden, geht es um eine Notfallsituation. Wir sprechen von der Notfallstufe, die wir mit aller Kraft versuchen zu vermeiden. Eines muss aber klar sein: Käme es zur Notfallstufe, dann gäbe es zu wenig Gas für alle, dann bestünde ein Mangel, eine Notsituation. Und dann müsste jede und jeder seine Lebensgewohnheiten hinterfragen, wenn damit ein übertriebener Gasverbrauch verbunden ist, angesichts der Reduzierungen, die wir in der Industrie verfügen müssten. Insofern nehme ich diesbezügliche Beschwerden heute erst einmal einigermaßen gelassen zur Kenntnis."

Und weiter?
Müller: "In schwierigen Momenten erinnere ich mich daran, was unsere und meine Aufgaben sind. Und dann fühlt es sich ziemlich okay an, Vorsorge zu treffen. Mein Job ist es, gemeinsam mit meinen erfahrenen und kompetenten BNetzA-Kolleginnen und -Kollegen und allen Akteuren, die Gas- und Energieversorgung auf möglichst sichere Beine zu stellen. Und ich bin überzeugt, dass klare Aussagen helfen, den Ernst der Lage zu verdeutlichen und die Menschen zu mobilisieren, zu helfen, wo sie es können."

Was würden Sie sich in der öffentlichen Debatte wünschen?
Müller: "Zwischen der jetzt noch möglichen Prävention in der Frühwarnstufe und einer möglichen Alarmstufe bzw. Notfalllage stärker zu differenzieren, das wäre hilfreich. Und zwar aus zweierlei Gründen: Erstens würden die Menschen erkennen, dass derzeit keinerlei Maßnahmen die Rechte der Menschen beschneiden. Zweitens würden sie, so hoffe ich, erkennen, dass freiwilliges Energiesparen im Hier und Heute – von jedem Einzelnen – hilft, die Folgen eines Notfalls in der Gasversorgung in Deutschland und Europa abzumildern oder sogar zu vermeiden. Und das ist das vorrangigste Ziel dieser Tage."

Sie haben angekündigt, nicht still sein zu wollen. Bereuen Sie das?
Müller: "Nein. Ich verstehe es als meine Aufgabe und die der Bundesnetzagentur aktiv und konstruktiv an den Themen der Netzmärkte mitzuarbeiten und die Lebensadern Deutschlands und Europas zu stärken. Auch oder sogar ganz besonders vor und in einer möglichen Krisenlage. Und ich bleibe dabei: Es ist die Aufgabe der Bundesnetzagentur, ganz klar darauf hinzuweisen, wenn etwas besser gehen kann."

Noch einmal zurück zur Anfangsfrage: Haben Sie ein Zwischenfazit für uns, auch über die Gasversorgung hinaus?
Müller: "Es war die richtige Entscheidung, das Amt des Präsidenten der BNetzA anzunehmen. Die Themen sind spannend, am Puls der Zeit. Sie sind wichtig für alle Menschen und wir können hier viel erreichen. Wir sind ein Team aus kompetenten Fachleuten mit dem nötigen Ehrgeiz, etwas zu bewegen. Und wir werden sagen, wenn etwas anders, etwas besser gehen kann und muss."

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